Wo ich auch hinkomme, das Thema Digitalisierung steht mittlerweile ganz oben auf der Agenda der meisten Unternehmen. Viele, unterschiedlichste Projekte werden durchgeführt und wir alle ahnen, dass die Arbeitswelt schon in 10 Jahren eine ganz andere sein wird. Hier stellt sich die Frage: Wie kann man die Digitalisierung gestalten?
Wenn wir ehrlich sind, verändert sich die Arbeitswelt ständig, durch die zunehmende Automatisierung und Rationalisierung ist die Arbeit immer standardisierter geworden.
Viele Menschen, denen ich begegne, haben ein gespaltenes Verhältnis zur Digitalisierung. Einerseits werden die technischen Möglichkeiten begrüßt und auch geschätzt. Auf der anderen Seite haben viele die Befürchtung, dass Menschlichkeit und Lebendigkeit bei diesem Entwicklungsprozess auf der Strecke bleiben.
Viele Menschen machen sich Sorgen über ihre Zukunft
So zeigt der aktuelle Zukunftsmonitor, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung jährlich erhebt, dass ¾ der Befragten eine starke Veränderung der Arbeitswelt voraussieht.
Bei der Frage, wie diese Entwicklung aussehen wird, sind die Meinungen allerdings geteilt: 33 % sehen eine Entwicklung zum Positiven, 47 % ´- also fast die Hälfte der Befragten – glauben, dass sich die Arbeitswelt bis 2030 in eine negative Richtung entwickeln wird.
Grundlage für diese negative Sichtweise sind die Befürchtungen, dass Jobs verloren gehen, dass Routine-Aufgaben nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen erledigt werden und dass die Menschen mit der Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht mehr Schritt halten können und auf der Strecke bleiben.
Ich kann diese ganzen Ängste auf der einen Seite gut nachvollziehen, auf der anderen Seite finde ich diese Sichtweise geradezu absurd. Denn wer hat denn den meisten Einfluss auf unsere Zukunft? Wer gestaltet denn den technologischen Fortschritt? Das sind ja wir Menschen und dann können wir ja bitteschön auch bestimmen, wir unsere Zukunft – unsere eigene und die der Menschen in unserer Mitwelt – aussehen sollte. Oder etwa nicht?
In die gleiche Richtung geht der Zukunftsforscher, Matthias Horx, den ich an dieser Stelle zitieren möchte:
„Es geht um „selbstbestimmte Vernetzung“ auf einer humanen Basis. Die Technik darf nicht mehr unser Leben bestimmen, sondern umgekehrt.“
Genau dieser Meinung bin ich auch, wir müssen die Entwicklungsprozesse in den Zukunftsprojekten – und dazu gehört auch alles was mit der Digitalisierung zu tun hat – auch im Sinne der Menschen gestalten.
Der Beginn eines solchen Prozesses sind nicht die technologischen Möglichkeiten sondern unsere menschlichen Bedürfnisse. Wenn wir diesen nicht die nötige Priorität einräumen, dann reagieren wir nur auf die technischen Gegebenheiten und die Veränderungen, die eine Nutzung dieser Technologien erfordert:
- Wenn wir ein Problem haben müssen wir mit virtuellen Menschen in der Technikhotline kommunizieren, die uns über automatisierte Algorithmen/Zahlenabfragen dem angeblich richtigen Mitarbeiter zuweisen. Ich persönlich finde das total nervig.
- Neue technologische Standards erfordern oft den Kauf von neuen Geräten, Hardware und Software. Die alte Ausstattung ist nicht mehr kompatibel, sodass ich gezwungen bin, mir neue Geräte anzuschaffen. Das erzeugt eine Menge Müll, schadet der Umwelt und am Ende auch uns Menschen.
- Im medizinischen Bereich liegt die Aufmerksamkeit bei der Diagnose allzu oft nur auf den Ergebnissen technischer Geräte. Gespräche führen, um Information über den Menschen und seine Lebensumständen zu gewinnen, dazu fehlt oft die Zeit und es wird meistens gar nicht bzw. schlecht bezahlt. Der Mensch fühlt sich nicht mehr beachtet und ernstgenommen.
Ich habe hier bewusst ein paar negative Beispiele aufgeführt, natürlich hat die Digitalisierung auch eine Menge positiver Dinge hervorgebracht. Aber ich möchte im weiteren ja darauf eingehen, wie wir es schaffen können, dass wir mehr in die schöpferische Rolle kommen, damit wir nicht immer mehr solcher negativen Wirkungen hervorrufen.
Dazu möchte ich 3 Punkte herausgreifen, die ich in diesem Zusammenhang für sehr wichtig halte:
Unser Selbstbewusstsein stärken
Wenn wir etwas Entscheidendes verändern wollen, müssen wir uns der Zusammenhänge und Wirkungen bewusst werden und das hat sehr viel mit unserem Selbstbewusstsein und einer achtsameren Wahrnehmung der Realität zu tun.
Leider ist die Tendenz heute eine ganz andere: Die Geschwindigkeit und die Informationsflut, die durch die zunehmende Digitalisierung entstehen, verringern Raum und die Zeit für eine bewusste Wahrnehmung auf das was wir den ganzen Tag tun, immer mehr. Wir sind wie Getriebene, die ihren automatisierten Gewohnheiten folgen.
Dazu ein Beispiel: Ich habe im Jahr 2014 eine Studie der GPM (Gesellschaft für Projektmanagement) zur Burnout-Gefährdung von Projektmanagern begleitet.
Als großer Risikofaktor stellten sich dabei die häufigen Unterbrechungen auf der Arbeit heraus: 80 % der Befragten sagten, dass sie auf der Arbeit häufig unterbrochen werden und dass sie diese Unterbrechungen auch belasten.
Diese Unterbrechungen entstehen zu einem überwiegenden Teil durch die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten: E-Mails, SmartPhones – wir sind überall und jederzeit für alle erreichbar.
Viele haben Angst, wenn Sie nicht erreichbar sind, dann verpassen sie wichtige Informationen oder sie befürchten dass Sie die Anforderungen des Chefs, des Kunden oder der Mitarbeiter nicht erfüllen. Auf diese Weise züchten wir eine regelrechte Unterbrechungskultur.
Die meisten von uns wissen schon, dass eine solche Art zu arbeiten nicht gesund ist. Noch dazu beeinträchtigt sie auch unsere Leistungsfähigkeit.
Wussten Sie dass Stress, ständiger innerer Druck und Anspannung unsere Denkfähigkeit beeinträchtigt? Dass die Verbindung zu unserem Neokortex – dem vorausschauenden, planenden und rationalen Teil unseres Gehirns – eingeschränkt ist und teilweise sogar ganz ausfällt?
Das ist der Grund dafür, warum viele in solchen Situationen nur noch durch ihre meist unbewussten Emotionen angetriggert werden: Dem Bedürfnis nach Anerkennung, Wertschätzung und dem verzweifelten Versuch, dem Teufelskreis aus Stress, Anspannung, Ärger und Frustration zu entkommen.
Das führt zu noch mehr Aktion, die wiederum zu noch mehr Hektik, Geschwindigkeit und Druck führt.
Selbstbewusstsein setzt voraus, dass ich Raum und Zeit habe, meine Aktivitäten und deren Wirksamkeit tatsächlich auch wahrzunehmen. Dabei ist achtsame Wahrnehmung erst einmal neutral und ohne Bewertung, damit ich die damit verbundene Wirkung auch wahrnehmen kann und nicht wieder durch mein Urteil oder meine Erwartungen beeinflusse. Der amerikanische Achtsamkeits-Experte Jon Kabat Zinn definiert Achtsamkeit so:
„Achtsamkeit ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht (statt auf die Vergangenheit oder die Zukunft), und nicht wertend ist.“
In diesem gegenwärtigen Moment, der durch unser Innehalten und unsere bewusste Wahrnehmung zustande kommt, entsteht dann der Raum für die Neugestaltung unserer Realität.
Anstatt automatisch unseren unbewussten Programmen zu folgen, nehmen wir die Wirkungen unserer hektischen Betriebsamkeit wahr. Und wir können uns dafür entscheiden, den Lauf der Entwicklung zukünftig bewusster und selbstbestimmter zu gestalten. Wir können uns entscheiden, ob es wichtig ist, immer sofort auf eingehende Anforderungen zu reagieren oder wir können neue Verhaltensweisen ausprobieren und sehen, welche Wirkung das neue Verhalten hervorruft.
Das wäre mein erster Tipp im Hinblick auf eine menschlichere Zukunftsgestaltung: Schaffen Sie Raum und Zeit, auch mal inne zu halten und in die Stille gehen zu können.
Schaffen Sie Begegnungsräume, in denen sich die Menschen über ihre Beobachtungen und die damit verbundenen Erfahrungen austauschen können.
Geben Sie den Menschen Raum und Zeit für die gemeinsame Entwicklung eines achtsamen, wertschätzenden Umgangs miteinander, das ist der erste Schritt zu einer neuen Unternehmenskultur.
Unsere wahren Bedürfnisse erkennen
Ich hatte es in der Einleitung schon angesprochen; es ist wichtig, dass wir den Zukunftsprozess am Anfang beginnen, mit unseren menschlichen Bedürfnissen. Damit meine ich jetzt nicht das Bedürfnis, alles beim Alten zu belassen, weil ich Angst vor der Zukunft habe. Das wäre ja naiv und realitätsfern.
Ich meine die menschlichen Bedürfnisse, die hinter den technischen Funktionen stehen, denn Technik ist ja eigentlich ein Werkzeug, das dem Menschen in seinem Leben und seiner Weiterentwicklung nutzen sollte und nicht umgekehrt.
Bei der Nutzung von Social Media beispielsweise geht es um die Verbindung zu anderen Menschen, den Austausch mit Gleichgesinnten. Die Gemeinschaft mit Menschen, die ich ohne eine solche Möglichkeit nie kennenlernen könnte, weil sie räumlich zu weit entfernt sind oder ich gar nicht auf sie aufmerksam werde.
Bei der Automatisierung geht es um eine Vereinfachung und Erleichterung der Arbeit und meines Lebens und nicht zuvorderst um die Einsparung von Kosten, um noch mehr möglichst billige Konsumgüter auf den Markt werfen und verkaufen zu können.
Bei der Mobilität geht es darum mein Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie zu leben und nicht zuvorderst um Statussymbole und starke PS Zahlen.
Ich habe viele IT Projekte begleitet und geleitet und ich weiß, wie schwierig es oft ist, die Anforderungen zu Papier zu bringen. Hier geht es aber weniger um logische Fakten, Produktmerkmale und rationales Denken.
Um unsere wahren Bedürfnisse herauszufinden, müssen wir uns wieder stärker mit unseren Gefühlen verbinden. Denn unsere Gefühle weisen uns den Weg zu unseren Bedürfnissen, wenn wir sie ernst nehmen bzw. überhaupt wahrnehmen können.
Denn die kultivierte „Unachtsamkeit“ im Punkt 1 sorgt ja auch dafür, dass wir uns dafür keine Zeit nehmen. Echte Gefühle kann man nicht auf Knopfdruck aus dem Untergrund unseres Unbewussten hervorholen. Dazu braucht es Raum zur Besinnung und vor allem Vertrauen, diese dann auch mitzuteilen und ernst zu nehmen.
Je besser meine Beziehung zu mir selbst ist, umso besser kann ich meine Wünsche und Bedürfnisse wahrnehmen und ausdrücken. Und diese von meinen Ängsten, Befürchtungen und Vorurteilen – die oft viel stärkere Emotionen auslösen – unterscheiden.
Oft sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, weil es einfach zu viele Möglichkeiten gibt. Dann hilft es nur in uns zu gehen und zu fühlen, was unser tatsächliches Bedürfnis ist, anstatt fremden Vorgaben und Konventionen zu folgen.
Das wäre also mein Tipp Nummer 2: Lernen Sie Ihre wahren Bedürfnisse zu finden. Einen guten Hinweis darauf geben Ihnen ihre Emotionen: Was liegt hinter der Wut oder dem Ärger versteckt? Welches ihrer Bedürfnisse wird gerade nicht erfüllt?
Was liegt hinter meiner Angst/meinem Widerstand gegen neue Systeme/dem Einsatz neuer Technik?
Welches Bedürfnis habe ich an Arbeit generell?
Wenn wir Klarheit über unsere Bedürfnisse haben, dann können wir diese auch in Worte fassen und anderen mitteilen. Und erst dann können wir sie auch in den Gestaltungsprozess einbeziehen.
Unsere Intuition weiterentwickeln
Das rationale Denken steht nicht nur in den Unternehmen hoch im Kurs. Wir glauben, dass wir alles mit logischem Denken lösen werden.
Leider ist das im Hinblick auf die Gestaltung unserer Zukunft ein Trugschluss. Denn unser rationaler Verstand ist immer vergangenheitsbezogen. Er vermittelt uns Lösungen, die wir schon kennen. Sie kennen sicher auch diese Prognosen, die auf Basis heutiger Zahlen die Zukunft simulieren. Wenn man später dahinter schaut, sind all diese Szenarien nie eingetreten.
Zukunft und damit auch Digitalisierung bringen neue Möglichkeiten hervor: Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass Handys und Smartphones mal eine solch wichtige Rolle spielen werden? Ich habe Anfang der 80er Jahr mein Berufsleben begonnen – damals konnte man die zukünftige Bedeutung der Informationstechnologie gerade erahnen. Wenn man die dazu nötige Fantasie mitbrachte.
Intuition heißt, sich nicht nur auf seinen rationalen Verstand zu verlassen, sondern auch seine Gefühle, innere Bilder und andere Signale wahrzunehmen und diese auch ernst zu nehmen.
Viele bahnbrechende Erfindungen sind nicht durch Nachdenken entstanden sondern durch Zufälle oder Einfälle, die förmlich aus dem Nichts kamen.
Die eigene Intuition – oder auch seine innere Stimme – kann man weiterentwickeln und pflegen, in dem man sie ernst nimmt und öfter mal bewusst auf sie hört.
Intuition entsteht in einem Bewusstseinszustand, in dem wir Abstand nehmen vom logischen Denken und auf die Impulse und Signale achten, die in uns aufsteigen. Das klingt in der heuten Zeit fast schon absurd, denn wir haben ja die Tendenz uns sofort abzulenken, wenn auch nur ein wenig Stille entsteht. So vertreiben wir unsere Intuition bzw. diese ist unter jeder Menge Informationsmüll vergraben.
Es gibt auch Übungen, mit denen man intuitive Impulse an die Oberfläche holen kann. Ich setze solche Übungen beispielsweise in meinen Trainings und Workshops ein und es ist immer wieder beeindruckend zu erleben, welche Lösungen dann zu Tage treten. Lösungen, die den Verstand und unser Gefühl einbeziehen und die uns daher ein stimmiges und gutes Gefühl geben. Ganz im Gegensatz zu den Gedankenschleifen, in die wir durch das Einbeziehen von immer mehr Informationen, Ratschlägen und unseren eigenen Gedanken geraten.
Mein dritter Tipp lautet daher: Pflegen Sie ihre innere Stimme, in dem sie ihr öfter mal zuhören und folgen. Es gibt mittlerweile gute Übungen, um seine Intuition zu stärken und systematisch weiterzuentwickeln. Die Intuition einbeziehen, das macht insbesondere bei Entscheidungen und Planungsprozessen viel Sinn.
Das waren 3 Punkte, die aus meiner Sicht nicht nur im Kontext der Digitalisierung wichtig sind, sondern auch, um eine menschlichere Arbeitskultur zu schaffen.
Mein Fazit lautet: Wenn wir die Digitalisierung gewinnbringend und vor allem menschlicher gestalten und nutzen wollen, dann müssen wir auch unser Selbstbewusstsein weiterentwickeln.
Wir müssen aus den automatisierten Gewohnheiten, wie z. B. der Unterbrechungskultur, aussteigen und bewusst neue Verhaltens- und Handlungsmuster schaffen.
Wir müssen uns selbst und anderen besser zuhören und auch unsere Gefühle und unsere Intuition ernst nehmen.
Das ist für mich die Basis für die gemeinsame Gestaltung einer Zukunft, die dem Menschen und allen Lebewesen dient – jenseits des heute noch vorherrschenden rationalen, reduzierten Maschinendenkens.
Die Autorin
Martina Baehr ist Arbeits- und Organisationspsychologin und seit 2009 als freiberufliche Projektmanagerin, Trainerin und Coach tätig. Sie ist Inhaberin von Projektmanagement plus, Schwerpunkt ihrer Arbeit ist es, Projektmanager, Teams und Führungskräfte dabei zu unterstützen, erfolgreich mit Veränderungen im Berufsalltag umzugehen und mehr Energie und Gelassenheit im Projektalltag zu entwickeln. Gemeinsam mit Sylvie Bueb hat sie dazu Online-Programme – die Gelassenheitsformel – entwickelt.
Martina Baehr arbeitete in verschiedenen mittelständischen Unternehmen als Projektleiterin sowie als Abteilungsleiterin für die interne Prozess- und Systemberatung und verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Leitung großer Reorganisations- und IT-Projekte.